Wien am 2. November: Ein Albtraum für Muslime

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Wien am 2. November: Ein Albtraum für Muslime
Von Tarafa Baghajati

Einleitend sei festgestellt: Ursprünglich sollte hier ein ganz anderer, brisanter Themenkomplex behandelt werden – nämlich die schreckliche Enthauptung des Lehrers Samuel Paty bei Paris, sowie die Berichterstattung von „Charlie Hebdo“ - und die Frage der Meinungsfreiheit aus islamischer Sicht. Geplant war auch der Versuch, aus den Ereignissen in Frankreich zu lernen, um künftige Eskalationen zu vermeiden – ohne dabei die Grundfreiheiten aufs Spiel zu setzen. Und schließlich sollte es um eine Bewertung der offiziellen Haltung Frankreichs und seines Präsidenten Macron gehen – einschließlich der Reaktionen muslimischer Institutionen und der Boykottsaufrufe gegen Frankreich.

Doch die Terror-Nacht vom 2. November hat uns alle überrumpelt. Und so müssen wir uns nun nicht mit Frankreich, sondern mit den so tragischen Geschehnissen in unserem eigenen Land beschäftigen.

In Wien ist genau das passiert, was für jede Muslimin und jeden Muslim einen permanenten Albtraum bedeutet: ein Terroranschlag mit Todesopfern, bei dem sich der Attentäter zum Islam bekannt hat und offenkundig davon ausgegangen ist, dass er im Auftrag „seiner“ Religion über Leben und Tod völlig unschuldiger Menschen entscheiden kann.

Seit 1975 war unsere Bundeshauptstadt etwa ein Dutzend Mal Schauplatz von terroristischen Aktivitäten. Alle diese Attentate aber hatten eines gemeinsam: Da war jeweils eine über unser Land hinausreichende Dimension, die auf österreichischem Boden gewaltsam ausgetragen wurde. Sogar der Überfall auf die Synagoge in der Seitenstettengasse vom August 1981 durch die Abu-Nidal Terrorgruppe hatte ein nahöstliches Motiv - obwohl die Juden Wiens nichts damit zu tun hatten, dafür aber bitter bezahlt haben.

Das war nun erstmals anders. Es gab kein anderes Ziel als Wien und uns alle, gleichgültig ob Christen, Muslime oder Juden, Buddhisten oder Atheisten. Schon nach den ersten Meldungen haben mich Muslime - vor allem Menschen mit Flüchtlingsstatus, aufgeschreckt gefragt: “Sind die Täter hoffentlich keine Muslime?“ Auch den Solidaritätsbekundungen aus dem islamischen Ausland ging es offenkundig nicht um religiöse Zuordnungen, sondern um Wien und die Wiener.

Unsere Stadt genießt in der arabischen und islamischen Welt höchstes Ansehen. Asmahan, die legendäre ägyptische Sängerin, hat in den 1950er-Jahren über die harmonischen Nächte in Wien gesungen. Viele, auch junge Leute kennen von ihr nur dieses Lied, auch wenn sie nie in Wien waren. Bruno Kreisky ist bis heute einer der beliebtesten internationalen Politiker und im Orient unvergessen.

Aber Nostalgie, verbunden mit einer verbalen Bestürzung, wird das Geschehen dieses 2. November nicht aus der Welt schaffen können. Wir alle werden herausgefordert, den Wurzeln der Ereignisse eine neue Aufmerksamkeit zu widmen – und nachzudenken, wie es dazu kommen konnte. So glaube ich, ein Versäumnis zu erkennen – vor allem bei jungen muslimische IS-Rückkehrern und solchen, die noch zeitgerecht an dieser Reise gehindert werden konnten.

Ohne mich auf die Suche nach „Schuldigen“ zu machen, glaube ich, dass diese Verführten zur De-Radikalisierung in Österreich einer dreifachen Betreuung bedurft hätten: nicht nur einer längerfristigen Sicherheitsprüfung und intensiver Sozialarbeit, sondern auch religiöser Betreuung. Es muss darum gehen, auch ihre Seelen im Geist der Friedfertigkeit zu erreichen.

Der jüngste Anschlag lässt uns aber auch die Dringlichkeit einer möglichst engen interreligiösen und übernationalen Zusammenarbeit erkennen, wie sie etwa unsere „Plattform Christen und Muslime“ bietet. Und: Es gehört zur besonderen Kunst staatlicher Organe, Verbrechen dieser Art mit aller Härte entgegenzutreten, ohne dabei die Vielzahl friedlicher Muslime zu diskriminieren.

Eines ist sicher: In den nächsten Tage werden sich viele zu Wort melden, die meinen oder behaupten, schon vorher alles Tragische erahnt zu haben. Denn: Schuld seien die Muslime – gleichgültig ob Österreicher oder nicht -, vor allem aber die Flüchtlinge. Wird es dann genügend Differenzierung und Solidarität geben?

Noch ein Letztes: Was immer an Kanzlers Kurz hinterfragt werden mag, sein Terror-Statement vom Kampf zwischen den vielen, die an den Frieden glauben, und jenen wenigen, die sich den Krieg wünschen, war staatsmännisch und verantwortungsvoll.

 

Dipl.- Ing. Tarafa Baghajati

Obmann der Initiative Muslimischer Österreicher/innen - IMÖ

Co-Vorsitzender der Christen und Muslime - Plattform Österreich

Vorstandsmitglied von MJLC Muslim-Jewish Leadership Council in Europe

 

 

 

 

 

 

Datum: 
Friday, 6 November, 2020