Syrien: Kurier-Interview mit Tarafa Baghajati
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"2012 ist es in Syrien für Reformen zu spät"
Ägypten, Libyen und nun Syrien? Auch in Damaskus wackelt das Regime, sagt Austro-Syrer Tarafa Baghajati im KURIER-Gespräch.
Der Austro-Syrer hofft auf einen friedlichen Systemwechsel in seiner alten Heimat
Ein "zweites Libyen wollen alle vermeiden", glaubt Tarafa Baghajati und hält einen friedlichen Wandel Syriens in Richtung Demokratie immer noch für möglich. Nur eines sei undenkbar, sagt der gebürtige Syrer, der seit mehr als 25 Jahren in Österreich lebt, im KURIER-Interview: "Dass das Regime das Rad der Zeit zurückdreht, der ,Point-of-no-return' ist überschritten."
KURIER: Bisher hat Präsident Bashar al-Assad wenig Bereitschaft zu Reformen erkennen lassen. Werden ihn die Proteste, die auch für heute wieder erwartet werden, in die Knie zwingen?
Tarafa Baghajati: Der Druck der Menschen auf den Straßen darf nicht aufhören. Wobei das Wichtigste ist: Die Proteste müssen friedlich bleiben. Die Demonstranten fordern nicht den Sturz des Präsidenten, denn das würde in Blutvergießen enden. Was sie verlangen, sind Reformen, Freiheit und Demokratie.
Warum sollte Assad seine absolute Macht und die seiner Familie beschneiden?
Der Präsident wäre gut beraten - statt wie die Präsidenten Tunesiens und Ägyptens einen abrupten Sturz zu riskieren -, aus einer Position der Stärke heraus das Land zu öffnen, radikale Änderungen durchzusetzen, die Folter abzuschaffen, Presse- und Meinungsfreiheit zuzulassen und einen Rechtsstaat zu errichten. Er könnte bei Wahlen kandidieren und würde wahrscheinlich sogar mit einer Mehrheit gewählt werden. 2011 ist das Jahr der Reformen. 2012 wird es zu spät sein.
Wer soll Assad das raten?
Das ist ja die Katastrophe, solche Berater gibt es in Syrien nicht. Der Präsident ist umgeben von lauter Nutznießern, Jasagern und seiner allmächtigen Familie. Im Grunde sind in Syrien alle Institutionen irrelevant: Volksvertreter, Regierung, Partei, sogar das Militär. Relevant sind nur der Geheimdienst, der von Assads Bruder Maher und seinem Schwager Asef Shaukat geleitet wird, und die Wirtschaftsführung: Dort läuft wiederum alles über den Cousin des Präsidenten - ohne Arrangement mit dem 41-jährigen Rami Makhlouf geht in Syrien gar nichts.
Was müsste in Syrien sofort geschehen?
Der seit 1963 geltende Ausnahmezustand, der den Staat dazu ermächtigt, jeden Bürger ohne Angabe von Gründen zu verhaften, einzusperren, zu foltern oder verschwinden zu lassen, muss aufgehoben werden. Dieses Dekret könnte binnen fünf Minuten Geschichte sein. Es gibt keinen einzigen Grund dafür, länger ein Polizeistaat zu sein.
Auch Sie wurden verhaftet und gefoltert?
Bisher habe ich in meiner zweiten Heimat Österreich noch nicht darüber öffentlich geredet, aber jetzt ist die Zeit gekommen: Als ich gegen Ende meines Studiums in Rumänien zu Besuch kam, wurde ich festgenommen und über acht Monate, davon drei in das berüchtigte Lager Palmera gesperrt, ohne je einer Oppositionsgruppe angehört zu haben. Dorthin verschwanden Hunderte, Tausende Syrer, von deren Schicksal ihre Familien nichts erfahren. Nie weiß man: Wird man gefoltert, wird man morgen noch leben? Die Gefangenen haben sich die Namen der anderen gemerkt, damit den Familien draußen irgendwann Nachricht gegeben werden kann. Ich kam 1985 frei und bin dann umgehend ausgereist, aber nach mir hat es sieben Jahre gedauert, bis der nächste Insasse die Hölle von Palmera verlassen durfte. Ich verspüre trotzdem keine Rachegefühle.
Die Führung behauptet: "Wir oder das Chaos" - ist das tatsächlich zu befürchten?
Ich bin überzeugt davon, dass radikale Reformen auch ohne Chaos möglich sind. Aber wahr ist, dass das System der Unterdrückung ein politisches Vakuum hat entstehen lassen. Viele Personen, die das Land führen könnten, sind entweder sehr alt oder nach Gefängnis und Folter sehr gebrochen oder im Exil. Auch die Muslimbruderschaft ist schwach und wenig glaubwürdig. Und die anderen religiösen Gruppen sind völlig unpolitisch.
Drohen Racheakte zwischen sunnitischer Mehrheit und alewitischer Minderheit, der die Präsidentenfamilie angehört?
Eine Konfessionierung bzw. Ethnisierung des Konfliktes verträgt Syrien auf keinen Fall. Alle Ethnien und alle Konfessionen, Sunniten, Alawiten, Christen, Ismaeliten, Drusen - sie alle müssen kühlen Kopf bewahren und für Syrien arbeiten.
Zur Person:
Tarafa Baghajati: Brückenbauer zwischen Muslimen und Christen
Leben: In Damaskus geboren, verließ der studierte Ingenieur 25-jährig das Land und lebt seither in Wien. Baghajati (49) ist Obmann der Initiative muslimischer ÖsterreicherInnen, Gefängnisseelsorger und Imam.
Familie: Seine Frau Amina Baghajati ist Sprecherin der islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich, vier Kinder.