Islamische Mystik
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Der Begriff der Mystik
Dem Duden ist zu entnehmen, dass es sich dabei um eine besondere Form der Religiosität handle, bei der der Mensch durch Hingabe und Versenkung zu persönlicher Vereinigung mit Gott zu gelangen sucht (Unio mystica: das Einssein mit dem Wesen Gottes). Im großen UNIVERSALLEXIKON des Gondrom Verlages wird Mystik als Erfassen des Übersinnlichen und Göttlichen durch Abkehr von der Sinnenwelt bezeichnet. Mystiker werden wohl in allen Kulturen als Menschen betrachtet, die Auswege aus der konfessionellen Enge von Religion suchen.
Im Islam wird Mystik als "Irfan" (arab. für Erkenntnis, Gnosis) bezeichnet. Sie wird auch Sufismus (von tasawwuf - suf - Wolle abgeleitet) genannt. Dies ist ein Hinweis auf ihren ursprünglich asketischen Charakter und das (meist dunkle) Wollgewand der Mystiker bzw. Sufis. Die Wirklichkeit, die die Mystiker bezeugen wollen, kann ihrer Meinung nach nicht durch das Studium von Büchern erlangt werden, sondern nur existentiell erfahren werden. Der Weg zu höherer Erkenntnis (ma'rifa) der Wirklichkeit verläuft in zweierlei Hinsicht: Selbsterkenntnis des Geschöpfes und Erkenntnis des Schöpfers. Abu Hamid Al-Ghazali erklärt dazu in seinem "Elixier der Glückseligkeit": "Denn wer sich selbst und seinen Herrn erkannt hat, der weiß mit Gewissheit, dass er kein Dasein von sich selber hat, sondern dass sein Dasein und die Erhaltung und Vollkommenheit seines Daseins von Gott und zu Gott und durch Gott ist."
Durch den Koran und die Überlieferungen des Propheten (s.s.) und seiner Familienangehörigen und Gefährten zeigt sich, dass von Anfang an eine Beziehung zwischen Mystik und islamischer Botschaft bestand. Die frühen Mystiker beriefen sich auf den ganzheitlichen Aspekt des Islam und wehrten sich gegen eine Trennung zwischen Innerem und Äußerem, Mystik und Gesetz. Sie betonten die Einheit - die ja auch das zentrale Thema des Koran ist. Einheit ist zunächst die Einheit und Einzigkeit Gottes, der Urgrund des Seins und das Ziel alles Existierenden. Diese Einheit offenbart sich in der Vielfalt, die organisch zusammenwirkt und somit ein Spiegelbild der ursprünglichen Einheit ist. Um sich dieser Einheit wirklich bewusst zu werden, sie zu "verinnerlichen" muss jedoch das Ego mit seinen Begierden überwunden werden, um die Erfahrung der Einheit mit dem Anderen, mit der Schöpfung und letztlich mit Gott erst möglich zu machen. Die Schritte, die zu diesem Einheitsbewusstsein führen, werden als Weg beschrieben, der sowohl die breite Straße des religiösen Gesetzes (Scharia) als auch des mystischen Pfades (Tariqa) umfasst. In diesem Sinne könnte man Scharia mit einer mehrspurigen Straße vergleichen, und Tariqa wäre dann die gewählte Fahrspur, auf der man der eigenen Geschwindigkeit und Fahrweise entsprechend vorankommt; abseits der Straße liegt dagegen der Umweg - oder der Straßengraben. Bei Scharia handelt es sich gleichzeitig um Recht (nicht nur aus Sicht der Mystiker) und auch die diesem zugrunde liegende Ethik. In der islamischen Ethik geht es um die Beziehungen des Menschen zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen, zu seinen Mitgeschöpfen, zur Schöpfung an sich und schließlich zum Schöpfer. Das islamische Recht gibt Anleitung zur Gestaltung dieser Beziehungen, durch gezielte Gebote aber auch Hilfestellung zu einer Weiterentwicklung auf diesem Gebiet. So übt z.B. das Fasten die Selbstbeherrschung und Genügsamkeit und vermittelt gleichzeitig die Erfahrung des Hungers, die das Mitgefühl mit den notleidenden Mitmenschen wachsen lässt, das Gebet stärkt die persönliche Verbindung zu Gott und hat gleichzeitig einen starken Gemeinschaftsaspekt usw. Man braucht kein Mystiker sein, um auf dieser Ebene ein rechtschaffener und auch spiritueller Mensch zu sein und Gott sehr nahe zu stehen.
Alle großen islamischen Mystiker befolgten die sittlichen Normen des religiösen Gesetzes in gleichem Maße, wie sie ihr Herz dem Göttlichen widmeten. Dazu gehören Namen wie: Hasan al-Basri (gest. 728), Dhun-Nun-al-Misri (gest. 859), Bistami (gest. 874), Mansur al-Hallaj (hing. 922), Abdullah-i Ansari (gest. 1089), Abu Hamid Al-Ghazali (gest. 1111), Fariduddin Attar (gest. 1220) Muhyiduddin Ibn Arabi (gest. 1240) und Jalaluddin Rumi (gest. 1273) sowie Hafiz Shirazi (gest. 1389). Waren bei den frühen Sufis die Furcht vor der Abrechnung maßgeblich, entwickelte sich schon früh eine Liebesmystik, vor allem unter der berühmten Mystikerin Rabia von Basra, deren Wunsch es war Gott alleine aus Liebe zu ihm und nicht wegen Belohnung oder Bestrafung zu dienen. (Junaid – „Mystik der Nüchternheit“, Abdel Kadir Gilani – Ordensbildungen). Spätere Mystiker, wie Ibn Arabi konzipierten umfassende Systeme gnostischer Erkenntnis, die sich rasch in der ganzen Islamischen Welt verbreiteten und bis zum heutigen Tag Quelle der Inspiration für viele Muslime sind, und nicht nur für Muslime (Goethe - Hafiz).
Innere Stufen der Tugendhaftigkeit
Die Mystiker aller Traditionen sind sich einig, dass die "Reise zum Herrn der Macht" - wie es von Ibn Arabi bezeichnet wird - moralische Qualitäten und innere Stufen der Tugendhaftigkeit voraussetzt, die der Wanderer im stetigen Kampf mit seinen Begierden (jihad un-nafs) erwirbt. Wenn der Mensch bewusst und absichtlich seinen persönlichen Weg der Selbsterziehung geht, gibt es dabei folgende wichtige innere Stufen (Schritte) :
- TAWBA (Einsicht/Umkehr) , um alte Fehler, Schwächen und Irrtümer nicht weiterzuverfolgen. Wichtig ist dabei die Bitte um Vergebung, aber auch die Aussöhnung mit jemandem, dem man ev. Schaden zugefügt hat.
- SABR (Geduld) vor allem auch mit sich selbst, wenn man wieder in alte Gewohnheiten zurück fällt.
- SHUKR (Dankbarkeit) für alle Gaben Gottes, die man im allgemeinen oft für selbstverständlich ansieht. Der Mensch kann Dankbarkeit nicht nur durch Gotteslob erweisen, sondern auch dadurch, Seine Gaben um sich herum zu entdecken, zu entfalten, Freude daran zu haben und sich in Seinem Dienst einzusetzen (z.B. Frieden stiften, versöhnen, pflegen, heilen usw).
- KHAWF (Furcht) im Sinne von Ehrfurcht und Vorsicht sowie RIJAA' (Hoffnung) auf die Früchte unserer Bemühungen.
- FAQR (Armut) und ZUHD (Verzicht) sind weitere wichtige Schritte. Die mystischen Autoren sind unterschiedlicher Ansicht darüber, ob Armut materielle Armut beinhaltet oder ausschließlich im übertragenen Sinne als Bedürftigkeit Gott gegenüber zu verstehen ist. Auf jeden Fall ist Anhaftung an das Eigentum schädlich, weil derart Verzichten und Teilen schwer fällt - eine solche Haltung wäre ein schwerwiegendes Hindernis auf dem Weg. In diesem Zusammenhang steht auch Verzicht nicht nur auf Verbotenes, Umstrittenes und Schädliches, sondern auch auf Überflüssiges und Unnützes, etwa überflüssiges Reden, nutzloses Eigentum usw.
- TAWHID (Einheit) und TAWAKKUL (Gottesvertrauen): Einheit ist nicht nur das theologische Bekenntnis zu einem einzigen Gott, sondern auch die Einigung der eigenen Persönlichkeit im Hinblick auf dieses eine Ziel. Das Vertrauen in Gott könnte z.B. mit einem kleinen Kind verglichen werden, das schrittweise seine Welt entdeckt und sich dabei immer, wenn es etwas Schönes, Fremdartiges oder Beängstigendes findet sich an seine Mutter wendet. Gottesvertrauen darf keinesfalls mit Leichtsinn oder Fatalismus verwechselt werden, denn es setzt voraus, dass alles menschenmögliche getan wird.
Ziel dieses Weges ist Liebe zu Gott, und zwar nicht nur ein undeutliches, schwärmerisches Gefühl, das womöglich zu ekstatischen Äußerungen veranlasst, sondern eine tiefe, reife Liebe, die den aufrichtigen Wunsch weckt, Gott zu dienen und zur Verwirklichung Seines Plans beizutragen. Die zuvor genannten Stufen können schon Vorformen dieser Liebe gewesen sein. Ein Diener Gottes zu sein bedeutet auf mystischer Ebene, Gott nahe zu stehen, Ihn zu erkennen, Sein Freund zu sein. Ein solcher Mensch wird von den Mystikern Wali Allah genannt. Die Erfüllung ist die Verbindung/Vereinigung mit dem Geliebten, das Entwerden (Fana) und Bleiben (Baqa) bei Ihm. Der Mystiker erlebt in diesem Stadium nicht mehr sich selbst, sondern nur Gott und Seine Manifestationen, sowohl in seiner Umgebung als auch in sich selbst.
Die Erziehung des "Ichs"
Der Weg der Selbsterziehung ist ein fortschreitender Erkenntnisprozess, hinderlich kann allerdings das menschliche Ich (Nafs) sein, das unter Umständen das innere Licht verdunkelt, Erkenntnis und Einsicht und damit auch den Sinn für Gerechtigkeit trübt. Das Ich als innere Triebkraft ist andererseits für das Vorankommen notwendig. Es geht also darum, es zu erziehen. Ein solcher erzieherischer Aspekt ist - wie bereits angedeutet - auch in den gottesdienstlichen Handlungen, die den Muslimen verpflichtend auferlegt sind zu finden, nämlich in Gebet, Fasten und Zakat usw.
Muslimische Denker und Theologen sprechen nicht nur von einem Trieb zur Selbsterhaltung , Selbstverteidigung und Fortpflanzung, die vom Schöpfer mitgegeben wurden und einen positiven Zweck erfüllen sollen, sondern auch von einem Trieb zur Selbstverwirklichung und sogar von einem Trieb, bzw. von einer inneren Veranlagung, Gott zu suchen (Fitra).
Im Koran selbst werden Zustände des Ichs an verschiedenen Stellen angesprochen. Daraus wurden folgende Stadien bzw. Entwicklungsstufen der Befindlichkeit des Ichs abgeleitet:
- Nafs Ammaara - treibendes oder befehlendes Ich (Triebseele). Ein Ich, das seine Triebe nicht beherrscht, sondern von ihnen beherrscht wird. Dieses Nafs kann Schaden anrichten, aber auch Schaden erleiden.
- Nafs Rahiina - belastetes Ich. Als Folge seiner verfehlten oder schädlichen Handlungen empfindet das Ich unbewusste Schuldgefühle und deutet unangenehme Erfahrungen in diesem Zusammenhang als Strafe, abgesehen von psychischen Verwirrungen, die entstehen können, wenn man sich selbst gegenüber unehrlich ist, Schuld auf andere schiebt oder sonst Selbstmitleid entwickelt oder uneinsichtig bleibt. Tatsächlich ist jede „Strafe“ und jede unangenehme Erfahrung eine Mahnung, über den eigenen Lebenswandel nachzudenken und an Fehlern und Schwächen zu arbeiten.
- Nafs Lawwaama - das sich selbst anklagende oder selbstkritische Ich (Gewissen). Das Ich lässt sich nicht mehr von Trieben und Impulsen beherrschen und macht Anstalten, sich auf diese Weise von den Fesseln seiner Belastungen zu befreien, indem es selbstkritisch an sich arbeitet. Ein eindeutiges Gefühl für Recht und Unrecht bewertet geschehene Handlungen bzw. versucht bereits von vornherein, schlechte Handlungen zu verhindern und zu guten zu motivieren.
- Nafs Zakiya - das gereinigte oder geläuterte Ich. In Wirklichkeit ist der innere Läuterungsprozess ein langer, in dem wir nicht den Mut verlieren dürfen. Das Ich wird oft mit Gold verglichen, das eingeschmolzen, von Schlacken gereinigt und geschmiedet werden muss. Der Mensch lernt den Umgang mit sich selbst und kommt mit sich ins Reine - erst dann wird es ihm möglich, über sich selbst hinauszuschauen und uneigennützig auf andere zuzugehen. Dies ist der innere Zustand der Propheten und Gottesfreunde. Ein solcher Mensch steht nicht mehr sich selbst im Weg, ist aber noch Prüfungen und Versuchungen von außen ausgesetzt, in denen er sich bewähren muss, und er leidet durchaus gelegentlich noch an Selbstzweifeln, Ungewissheit und Unruhe.
- Nafs Mutma’inna - das beruhigte Ich. Erst schrittweise erlangt eine Person in ihrer äußeren und inneren Auseinandersetzung einen Grad der Gewissheit, der sie beruhigt und ihr Zuversicht gibt, indem sie Gottes Wirken an sich selbst und anderen unmittelbar und ohne Selbsttäuschung erleben konnte. Dies ist ein Zustand, der außer innerer Reinheit und Klarheit auch Erfahrung voraussetzt und er ist genau zu unterscheiden von Gleichgültigkeit und einer Losgelöstheit, die Unrecht, Leiden, die Zerstörung anderer Daseinsformen und alle Disharmonie einfach ignoriert, denn das wäre ein Zustand tiefster Unwissenheit und Illusion. Ein Mensch hingegen, der diese innere Ruhe wirklich erreicht hat, setzt sich in allen Lebenslagen geduldig und sachlich mit reiner Absicht für Gottes Sache ein und lässt sich weder durch Erfolge noch durch Misserfolge aus dem Gleichgewicht bringen.
- Nafs Radiya - die zufriedene Nafs und
- Nafs Mardiya - die Nafs, mit der Gott zufrieden ist. Von diesen beiden Schritten ist nicht sicher, ob sie in diesem Leben als Dauerzustand verwirklicht werden können oder nur vorübergehende „Kostproben“ für das zukünftige Leben sind. Nafs Radiya ist in dem Sinne zufrieden, dass sie über Gewissheit und Zuversicht hinaus bejaht, was sie als von Gott kommend erfährt, ob es für sie gerade angenehm oder unangenehm ist, in Verbindung mit einer tiefen Einsicht. Dies wird meist als Voraussetzung für den anderen Zustand gesehen: Nafs Mardiya.
Die erzieherische Linie, die der Prophet Muhammad (s.s.) verfolgte bzw. die in der chronologischen Abfolge des Koran gegeben ist, ist Erziehung auf der Grundlage einer bestehenden, wenn auch mangelhaften Gesellschaft, zu einer höheren Ebene der Erkenntnis und Verantwortung, so dass aus den so entfalteten Individuen schließlich eine neue gesundere Gemeinschaft wachsen kann. Dies ist nie ganz aus den Augen verloren worden: Zumindest in groben Zügen wird seit jeher angegeben, welche Texte aus Mekka und welche aus Medina stammen und ihr transzendenter Ursprung findet stets Berücksichtigung: Sie sind nicht einfach nur Dokumente des Zeitgeschehens, sondern sprechen in die damalige Zeit hinein und über sie hinaus.
Ebenen der Selbsterforschung
Auf dem Weg zu höherer Erkenntnis haben Sufis verschiedene Methoden und Erklärungsmodelle entwickelt. Eines davon sind die bereits genannten Entwicklungsstufen des Ichs. Ein anderes ist das der verschiedenen Ebenen, die ein Mensch im Laufe seiner Selbsterforschung kennen lernt. Nach dem folgenden Modell wird dabei ein Bezug zu menschlichen Grunderfahrungen hergestellt, die anhand der Geschichten prophetischer Persönlichkeiten aus alten Zeiten verdeutlicht werden und als Hilfe zum Verständnis bei den Entwicklungs- und Entdeckungsschritten herangezogen werden. Da ist zunächst der
Körper (zahir) mit seinen Funktionen, die erst entdeckt und erlernt werden müssen, um sie beherrschen und koordinieren zu können. Ein Mensch, der seinem Körper entfremdet ist, wird im Umgang mit sich selbst Schwierigkeiten haben, vor allem, wenn körperliche Veränderungen stattfinden wie etwa in der Pubertät, bei einer Schwangerschaft oder im Übergang ins Alter. Solche Zeiten der Veränderungen machen das Werden und Vergehen besonders deutlich. Auf dieser Ebene liegen nach der mystischen Betrachtungsweise Adam bzw. Eva. Die damit verbundene Urerfahrung ist Fehltritt, Einsicht und Umkehr, durch die sich der Mensch für neue Erkenntnisse und Offenbarung öffnet. Zum Körper gehört in gewissem Sinne auch die
innere Struktur, denn nicht nur die äußere Form, die immer wieder neu hergestellt wird, hinterlässt Eindrücke, sondern auch Erfahrungen, Wünsche, und jene unbewussten oder halbbewussten Faktoren wie Sozialisation, frühere Erfahrungen, innere Bilder usw. sowie genetische Voraussetzungen. Die Auswirkungen dieser Ebene lassen sich nicht durch rationales Lernen übertragen, sondern äußern sich vielmehr auf psychosomatischem Weg. Nächste Ebene ist das
Ich (Nafs), das der Mensch für den Kern seiner Persönlichkeit hält und von dem schon ausführlich die Rede war. Auf dieser Ebene liegt Noah denn: Ein gut erzogenes Ich ist wie ein Schiff voller Tiere - die menschlichen Triebe und Regungen, die sich allesamt innerhalb ihrer berechtigten Grenzen bewegen und sich bereitwillig dem Kapitän unterordnen, der das Schiff durch die Stürme des Lebens hindurch auf das Ziel zusteuert, zu dem der Reeder ihn beauftragt hat. Das bedeutet, dass das Ich einsieht, dass es nicht im Mittelpunkt des Daseins steht. Ein egozentrischer Mensch würde sich selbst verabsolutieren und die eigenen Wünsche und Bestrebungen zum Maßstab für alles andere in der Welt machen. Ein Mensch jedoch, der sich gründlich selbst erforscht, entdeckt zwangsläufig, dass er nichts als ein Pünktchen auf dieser Erde ist, geschweige denn im Universum. Er erkennt, dass es Maßstäbe gibt, denen er untergeordnet, und Beziehungen, in die er eingeordnet ist und die ihn auch selbst verändern können. Wichtig auf der Ebene der Beziehungen ist das
Herz (Qalb): Es ist der Wendepunkt des Menschen, indem es sich zuwendet, den es liebt. Wenn jemand nur sich selbst liebt, wird das Herz ganz vom Ego in Anspruch genommen und Mitmenschlichkeit oder Gottesliebe hat darin keinen Platz. Diese Ebene wird durch Abraham verdeutlicht. Nach einer intensiven Suche nach dem wirklichen Geliebten wird er geprüft, wen er nun mehr liebt, Gott oder seinen Sohn, der sein Ich verkörpert; er sieht sich aufgefordert, seinen Sohn zu opfern. Selbstaufgabe ist aber nicht der Sinn dieser Prüfung, sondern was geprüft wird, ist die Liebe und die Bereitschaft: der Sohn wird ja schließlich durch ein Schaf ausgelöst. Auch die nach muslimischem Glauben von Abraham und Ismail gebaute Kaaba ist ein Herzsymbol. Sie kann mit Götzen vollgestellt sein wie zur Zeit der ersten Offenbarungen an den Propheten Muhammad (s.s.), oder sie kann rein und leer sein, um Gottes Gegenwart aufzunehmen, also im wahrsten Sinne des Wortes Gottes Haus sein. Jenseits des Herzens liegt die
Vernunft ('aql) nicht der rationale Verstand, sondern die Fähigkeit, übergreifende Zusammenhänge zu erkennen und richtige Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Wenn das Ich aus seinen Kenntnissen aber eigennützige Schlussfolgerungen zieht und damit die Harmonie der Beziehungen stört, in die es eingebettet ist, kann großer Schaden entstehen (z.B. Gewinnmaximierung durch technologische Kenntnisse). Vernunft ist immer mit Verantwortung verknüpft und macht den Menschen erst wirklich zum Khalifa, zum Statthalter Gottes. Hier ist den Mystikern Moses Bezugsperson, dem das "Gesetz" deutlich wird und der in Gottes Auftrag das größenwahnsinnige Ich in der Gestalt des Pharao in seine Grenzen weist. Auf der nächsten Ebene ist der
Geist (ruh). Er ist die Verbindung zwischen Mensch und Gott. In diesem mystischen Erklärungsmodell ist der Geist Übermittler der Offenbarung und der schöpferischen Impulse. Verdeutlicht wird dies an der Gestalt von Jesus, dessen Wunder, wie sie im Koran erwähnt werden, die im Sinne einer Belebung toter Herzen, einer Heilung innerlich Kranker, einer Eingliederung gesellschaftlich "Unberührbarer" usw. verstanden werden. Ruh ist die eigentliche Seele des Menschen, deren leise Stimme aber oft durch das laute Geschrei des Ich in den Hintergrund gedrängt wird. Die letzte und höchste dieser Ebenen ist das
Licht (nur), jener göttliche Funke im Menschen, der erst dann richtig zum Vorschein kommt, wenn der ganze Mensch durchlässig geworden ist. Licht ist der Offenbarungsinhalt, die Mitteilung Gottes an den Menschen. Es erleuchtet und zeigt die Aufgaben auf, und den Weg, sie zu bewältigen. Die Welt wird "in ihrem wahren Licht" gesehen. Das Licht vertreibt die Finsternis der Unwissenheit und Ungerechtigkeit (zulm). Es ist Gottes eigenes Licht, und der Mensch erkennt, dass Gott selbst es war, der ihn führte. Der Funke Seines Lichtes im Menschen ist es, der Einsicht gibt in die Wirklichkeit der Welt und den Sinn des eigenen Lebens. Verdeutlicht wird dies an der Gestalt Muhammads (s.s.), der Kontakt mit dem göttlichen Licht im "Abstand von zwei Bogen" hatte (Sura 53:1-12). Das bedeutete im damaligen arabischen Sprachgebrauch eine unmittelbare Berührung auf breiter Fläche, aber keine "Verschmelzung". Auf diese Art bleibt der "unendliche, qualitative Unterschied", Gottes Transzendenz gewahrt, auch wenn das Ich völlig das Bewusstsein von sich selbst verliert, auch wenn der betreffende Mensch sich völlig "von Gott erfüllt" erfährt und nichts anderes mehr lebt als die Impulse, die ihm von Gott eingegeben werden, wenn er völlig Offenbarungsträger geworden ist.
Formen der Meditation
Welche Erklärungs- und Hilfsmodelle der Suchende auch heranzieht: Der "Weg zum Herrn der Macht" ist jedenfalls lang, mühevoll und nicht ungefährlich. Er wird von Mystikern mit einer Reise durch die Wüste verglichen, wo es Raubtiere gibt, Sandstürme, usw. und gelegentlich eine Fata Morgana. Diese ist wohl auch die größte Gefahr: Die der Illusion, dem Ziel schon sehr nahe zu sein, während der Mensch in Wirklichkeit auf Abwege gerät, einem Streich der Phantasie oder der Emotionen zum Opfer gefallen ist. Deswegen wird es fast durchwegs als unerlässlich betrachtet, einen erfahrenen Führer oder Begleiter zu haben. Wissen und eine solide ethische Grundlage sind jedenfalls für den Suchenden eine Voraussetzung. Das Wesentliche ist die Besinnung und Erfahrung von Gottes Gegenwart und der Ausbau bzw. die Vertiefung der Verbindung zu und mit Ihm. Dazu haben sich in den mystischen Traditionen vielfältige Formen der Meditation herausgebildet. In sehr umfassendem Maße ist das schon das rituelle Gebet, dazu kommen Bittgebete, Lobpreisungen, Bitten um Vergebung usw. In den mystischen Traditionen ist das darüber hinaus das sogenannte "DHIKR" das laut (eher in Gemeinschaft) oder still (eher alleine) praktiziert wird, indem eine Abfolge von Gebeten rezitiert und/oder Anrufungen wiederholt werden, z.B. über die Namen Gottes. Es kann von Körperhaltungen oder Gesten, bis hin zum Tanz begleitet sein. Von Dhikr des Herzens wird gesprochen, wenn ein Mensch in einer ständigen, ununterbrochenen Herzensverbindung mit Gott lebt. Zurückgezogenheit ist eher nicht erstrebenswert, weil das Fehlen der Herausforderungen durch die Mitmenschen und verschiedene Lebensumstände leicht zu einem falschen Selbstbild führt und Meditation in Autosuggestion umschlagen könnte.
Schlussbetrachtungen
In der Geschichte der Sufis gab es verschiedene Tendenzen. Die frühen Sufis legten großes Gewicht auf Zurückgezogenheit und starke Askese, standen allem Materiellen und den Mächtigen ihrer Zeit kritisch gegenüber. Nach der Entstehung der großen Ordenstraditionen verstärkte sich das Gewicht auf die Gemeinschaft der Sufis untereinander. Islamische Werte wurden gepflegt und derart weiter vermittelt, dass die Mitmenschen profitieren konnten, unter anderem auch im Bereich der Geisteswissenschaften, des sozialen Lebens und der Kultur. Es gab allerdings auch gewaltige Versuchungen dort, wo Mystiker Herrschern beratend zur Seite stehen konnten und es waren sicher nicht alle Berater immun dagegen.
Die Methoden und Erklärungsmodelle der Mystiker auf dem Weg zu Gott haben auch im Leben "gewöhnlicher" Gläubiger Bedeutung, man könnte sagen, dass die Grenze zwischen Mystik und konfessioneller Lehre fließend ist. Der große Unterschied zu den Mystikern liegt wohl in der Intensität der Suche und im Streben nach der vollkommenen Vereinigung mit Gott bereits im Diesseits. Natürlich gerieten und geraten Mystiker mit ihren Interpretationen, die von der "konfessionellen Lehre" teilweise als zu exzessiv oder zu weit hergeholt geächtet wurden, mitunter mit jener in Konflikt. In diesem Zusammenhang ist unbedingt Abu Hamid Al-Ghazali zu nennen, einer der größten Theologen des Islam, der sich - unbefriedigt durch den Intellektualismus - dem Sufismus zuwendete. Ihm gelang es, die "konfessionelle Lehre" mit der Mystik zu "versöhnen" und ihr einen festen Platz in der islamischen Theologie zu verschaffen. Seine Hauptwerke sind "Die Wiederbelebung der Religionswissenschaften", "Die Nichtigkeit der Philosophie" und "Das Elixier der Glückseligkeit". Aus diesem abschließend ein kurzes Zitat: "Die höchste Vollkommenheit die der Mensch erreichen kann, ist die, dass die Liebe zu Gott sein Herz so erfüllt, dass sie alles aufhebt, und wenn das nicht möglich ist, sie doch die Liebe zu allen anderen Dingen überwiegt."
Quellen:
Halima Krausen, Islamische Mystik auf der Grundlage von Koran und Sunna
Rudolf Jockel, Islamische Geisteswelt
Al-Ghazali, Das Elixier der Glückseligkeit
Annemarie Schimmel, Die Religion des Islam