Redefreiheit und Hetzrede (hate speech)
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Ein Beitrag für die EUMC Zeitschrift "Equal Voices" vom Juni 2006
Sollte es Grenzen der Redefreiheit geben oder nicht - und falls ja, welche?
„Das Gute und das Böse sind fürwahr nicht gleich. Wehre das Böse mit dem Besseren ab, und schon wird der, zwischen dem und dir Feindschaft war, dir wie ein echter Freund werden.“ (Koran 41:34)
Redefreiheit ist als grundsätzlicher Wert in Europa unumstritten. Demokratie wäre ohne sie undenkbar, und die Hinwendung zu diktatorischen Strukturen bei jeder staatlichen Einschränkung von oben tendenziell nahe. Gleichzeitig ist kaum ein Wort in letzter Zeit so negativ besetzt wie jenes des „Hasspredigers“. Hetzrede kann keineswegs damit rechnen, automatisch unter dem Titel „Redefreiheit“ einfach zur Kenntnis genommen zu werden. So positiv die Redefreiheit besetzt ist, so negativ ist „hate speech“.
Gesetzgebung und Ethikkodex
Die Gesetzgebung der europäischen Länder hat auf verschiedene Weise auf diesen scheinbaren Widerspruch reagiert. Denn der soziale Frieden und Zusammenhalt einer Gesellschaft sollen geschützt werden. Insofern sind mit unterschiedlicher Akzentuierung Paragraphen aufgenommen, die eine Absicherung vor gemeingefährlichen Einflüssen, etwa durch hetzerische oder herabwürdigende Meinungsäußerungen, darstellen. Deutschland und Österreich haben zu Recht spezielle Vorkehrungen getroffen, die vor Wiederbetätigung und damit einer Hinwendung zum Gedankengut der Hitlerzeit bewahren sollen. Blasphemieparagraphen beziehen sich auf die Religion. Geschützt ist nicht in allen Ländern automatisch jeder Glaube. Noch immer findet sich die Idee einer „Staatskirche“ in Gesetzestexten, die ausschließlich der Mehrheitsreligion besonderen Schutz angedeihen lassen.
Journalisten haben sich vielerorts einen Ethikkodex gegeben. Damit soll die Pressefreiheit nicht mit Selbstzensur belegt werden, sehr wohl aber an eine Selbstkontrolle im Sinne eines ausgewogenen und fairen Journalismus erinnert werden.
“ Verantwortung ist ein Schlüsselbegriff in der Ausübung der Meinungsfreiheit.“
Verantwortung ist somit ein Schlüsselbegriff in der Ausübung der Meinungsfreiheit. Begriffe wie „nach den guten Sitten“ oder „nicht den Anstand verletzend“, die auch in Gesetzestexte eingeflossen sind, zeigen, dass wir hier schließlich in ein Feld vorstoßen, das letztlich nicht nach Punkt und Komma juristisch zu erfassen ist. Der gesellschaftliche Konsens ist einem Wandel unterzogen, was wir etwa an der Herbeiziehung von Blasphemieparagraphen beobachten können. Die „Schmerzgrenze“ hat sich hier in den letzten Jahrzehnten deutlich nach oben verlagert, was das Christentum betrifft.
In Vielfalt geeint - Muslime in Europa
Eine neue Situation ist aber durch den wachsenden Pluralismus der europäischen Gesellschaften eingetreten. Dies bezieht sich auf die innere gesellschaftliche Vielfalt, wie auch auf die aus Migration erwachsene. Ein gemeinschaftliches Empfinden, dass sich dieses oder jenes gewissermaßen „von selbst verbietet“, scheint eher mit Homogenität als mit Vielfalt vereinbar. Das Motto der Europäischen Union „In Vielfalt geeint“ bringt die hierin liegende Herausforderung positiv zum Ausdruck, indem es von einem zu erreichenden Konsens in wesentlichen, das Zusammenleben betreffenden Punkten ausgeht. Dialogbereitschaft ist dazu eine Voraussetzung.
Muslime in Europa haben sich wiederholt deutlich positioniert. Die Abschlusserklärung der ersten europäischen Imamekonferenz in Graz 2003 stellt die Kompatibilität einer Identität als Muslim/e mit den Werten von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus und Menschenrechten fest. Dezidiert auf die Redefreiheit, die hier natürlich inkludiert ist, ging die erste österreichische Imamekonferenz vom April 2005 ein. Noch unter dem Eindruck des Mordes an Theo van Gogh wurde Freiheit als wichtigstes Gut des Menschen gleich nach dem Leben beschrieben und Gewalt als Reaktion auf missliebige Meinungsäußerungen verurteilt. Wörtlich heißt es: „Niemand soll aufgrund der eigenen Meinung Sorge um sein Leben haben, diskriminiert werden oder bei der Ausübung der Religion, bzw. Weltanschauung behindert werden. Die Unterschiede in den Perspektiven und Auffassungen sind für MuslimInnen als gottgewollt zu respektieren. Alle Formen des Zwangs in der Religion werden daher abgelehnt.“
Beide Erklärungen erhielten ein sehr positives Echo und große Zustimmung. Sie wurden aber auch als Kontrast zur Wirklichkeit in Ländern der muslimischen Welt empfunden. Muslime in Europa sind sich dieser Tatsache schmerzlich bewusst und sehen sich einem ständigen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Zu betonen, dass mangelnde Redefreiheit in diesem oder jenem muslimisch geprägten Land (beileibe nicht allen!) nicht aus dem Islam herrührt, sondern im Demokratiemangel der dort herrschenden Systeme begründet ist, erscheint darum wichtig. Es wäre ein Trugschluss, jedes Symptom aus dem Islam heraus analysieren zu wollen. Gleichzeitig ist es von größter Bedeutung, einen Diskurs unter Einbeziehung der Theologie zu führen, um die ethischen Richtlinien des Islam nach innen und außen zu unterstreichen. Damit kann innermuslimisch der Ansporn gesteigert werden, sich im Sinne des Allgemeinwohls partizipatorisch einzusetzen. Außerdem kann nach außen ein für das gedeihliche Zusammenleben unverzichtbares Vertrauensverhältnis aufgebaut werden.
„Muslime in Europa sehen sich einem ständigen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt.“
Im Islam finden sich starke Argumente für die Bedeutung des freien Wortes in Verbindung mit der Verantwortung für ein funktionierendes Miteinander. Wie bei jeder Handlung ist die Absicht entscheidend und soll so Selbstreflexion anregen. „Weisheit und schöne Rede“ bilden ein Paar. Zivilcourage wird eingefordert, wenn es im Hadith heißt, dass Unrecht auf dem Weg eigenen Handelns oder der Rede, zumindest aber im Herzen (Meinungsfreiheit) zu begegnen sein. „Der größte Dschihad[1] ist ein wahres Wort gegen einen Tyrannen.“ Viele Belegstellen gibt es, die an die weit reichenden Folgen einer unbedachten, vielleicht aus der Emotion geborenen Rede erinnern und so zum Schweigen raten, falls nichts Konstruktives gesagt werden könnte. Zur Beschreibung des Paradieses gehört, dass es dort kein „leeres Geschwätz“ gibt. Vor der Beleidigung dessen, was anderen heilig sein könnte, wird im Koran gewarnt, da dies einen Angriff auf eigene Werte zur Folge haben könnte. Es wird beschrieben, dass Gott jeder Gemeinschaft ihren Weg als schön erscheinen lässt, und das „Wetteifern in guten Werken“ angeraten. „Ein gutes Wort ist wie ein fester Baum, dessen Wurzeln fest sind und dessen Zweige bis in den Himmel reichen“, heißt es in Sure Ibrahim, Vers 24.
Die aktuellste Stellungnahme zum Thema, die von der zweiten europäischen Imamekonferenz in Wien im April 2006 stammt, nimmt indirekt Bezug auf die Diskussion um die Karikaturen des Propheten Muhammad, die mit der Absicht der Provokation in Auftrag gegeben wurden. Die Stellungnahme bekräftigt die Presse– und Redefreiheit als „allgemeines und unverzichtbares Gut“ und stellt keine Forderung nach zusätzlichen gesetzlichen Bestimmungen, um die religiösen Gefühle von Muslimen zu schützen. Betont wird dagegen die Notwendigkeit des Dialogs, um ein gesellschaftliches Bewusstsein zu erreichen, das diese anerkennt und respektiert.
Einige Überlegungen für die Zukunft und weitere Diskussion
- Redefreiheit und Religionsfreiheit sollen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Sie sind als Säulen des Menschenrechtsverständnisses eng miteinander verknüpft.
- So wie Redefreiheit historisch gesehen von unten nach oben in Europa erkämpft wurde, kann sie als Instrument zur offenen Kritik an den Mächtigen mitunter zur Polemik greifen. Blasphemie ist in diesem Licht abhängig vom jeweiligen Fall zu betrachten. Wenn eine Minderheit von der herrschenden Mehrheit bewusst durch Blasphemie provoziert werden soll, ist dies als Handlung von oben nach unten alles andere als ein emanzipatorischer Akt, sondern diskriminierend.
- Wo auch immer Felder liegen, die als „doppelte Standards“ wahrgenommen werden könnten, wären diese abzubauen. Dies betrifft z.B. das Rechssytem, wenn Muslime anders als etwa Angehörige der Mehrheitsgesellschaft keine Grundlage finden, die ihre Religion dezidiert schützt. Auch wenn solche Paragraphen im Idealfall nicht zur Anwendung kommen, geben sie doch einen wesentlichen Anstoß dafür, Bewusstsein für religiöse Vielfalt zu stärken im Sinne des erwünschten gesellschaftlichen Konsens’.
- Abgesehen von der juristischen Seite wäre es unfair, von Muslimen zu verlangen, sie hätten widerspruchslos eventuelle Schmähungen ihrer Religion hinzunehmen. Die Beleidigung wiegt doppelt schwer, wenn die paradoxe Situation eintritt, dass gröbste Verletzungen im Raum stehen, aber das Recht dagegen zu protestieren moralisch abgesprochen wird. Bleiben Schmähungen der Religion Islam ohne Widerspruch, kann als Folge die Schwelle zur Islamfeindlichkeit herabgesetzt sein, vielmals ohne dass dies weiter auffiele.
- Eine Wissensoffensive über den Islam könnte Klischees, Simplifizierungen, Vorurteile und Projektionen abbauen helfen (Stichwort Frauenthema oder Frage nach der Trennung von Religion und Staat).
- Eine „Kultur des Respekts“ als weiterführende Stufe des Toleranzgedankens wäre auf diesem erweiterten Horizont aufbauend zu fördern. Schon bei Goethe lesen wir, dass Dulden schließlich Beleidigen heiße. In Würdigung dessen, was der Toleranzgedanke an geistigem Aufbruch in Europa bewirkte, soll bedacht werden, dass hier ein hierarchischer Zugang seine Wurzel hat, der sich des anderen herablassend annimmt und die eigene geistige Überlegenheit voraussetzt. Ein ehrlicher Dialog kann aber nur auf gleicher Augenhöhe geführt werden, in Offenheit für Neues. Verständnis soll dabei nicht mit der Annahme des anderen Standpunkts verwechselt werden.
- Gelingt die Eigendefinition bevorzugt über die negative Abgrenzung vom „Fremden“, so ist dies eine nicht nur innere Schwäche verratende Tendenz, sondern lädt geradezu ein, dieses „andere“ im schlechtesten Licht darzustellen. Dieses Motiv hinter „hate speech“ sollte sorgfältig beobachtet werden. Problematisch an der Hetzrede ist, dass sie vom Rezipienten als berechtigt und geradezu „wahr“ aufgenommen werden könnte.
- Absolutheitsansprüche sind ausgrenzend und damit gefährlich. Traditionell stehen gerade Religionen mit ihrem Verkündigungsgedanken im Verdacht, selbstherrlich als Besitzer der alleinigen Wahrheit aufzutreten. Missionseifer und damit verbundene Engstirnigkeit wäre aber genauso zu kritisieren, wenn er von ausgesprochen anti-religiöser Seite stammte. Bemerkenswert erscheint sogar, dass die Einsicht über eine solche Gefahr hier oft kaum vorhanden ist, weil man sich leicht als erhaben über etwas sieht, das man allein der Religion zuschreibt und damit eine höhere Wertigkeit beansprucht. Dass radikale Religionskritik in Europa wiederholt über die Schiene des Islam als willkommenen Platzhalter lief – siehe Voltaire und sein Theaterstück über den Propheten Muhammad – ist keine neue Erfahrung.
- Politik und Medien sind als Machtfaktoren und Impulsgeber zu besonderer Verantwortung aufgerufen: Abstand zu halten von populistischen Slogans und einer Ausrichtung auf möglichst leichte Konsumierbarkeit. Die Teilhabe von Minderheiten als lebendiger Spiegel der Gesellschaft muss gewährleistet sein.
- Das Thema „Redefreiheit“ sollte man schließlich nicht abgelöst von jenen Phänomen betrachten, die in Zeiten wachsenden sozialen Drucks und einer um sich greifenden Unsicherheit merklich sind. In einer „Ellbogengesellschaft“ gehören Mobbing und Kampfrhetorik leider oft zum Alltag und schädigen das allgemeine Klima. Dialogkultur ist somit kein bloßes Integrationsthema, sondern betrifft alle.
Der verantwortungsvolle Umgang mit Redefreiheit ist auch an die Mündigkeit des Einzelnen geknüpft. Die Bereitschaft, als Antwort auf eine globalisierte Welt vernetzt zu denken und verschiedenste Ansätze zu berücksichtigen, stellt eine große Herausforderung dar. Ist schon die innere Vielfalt in Europa schwer zu bewältigen, so liegt darin vielleicht der Schlüssel zum Verständnis, warum der Umgang mit der - berechtigt oder nicht - als „fremd“ bewerteten Vielfalt erst recht schwer wird?
Die Geschichte Europas zeigt im Umgang mit Vielfalt nicht gerade eine positive Bilanz. Gerade religiöse Vielfalt suchte man lange Zeit durch räumliche Trennung zu managen und scheiterte daran.
Wir werden Geduld, gepaart mit der Bereitschaft zu Entwicklung brauchen. Gerade auch, weil die Aufgaben, die man den Muslime auferlegt, auch die eigenen sind. Integration erscheint einmal mehr als beidseitiger Prozess.
[1] Dschihad bedeutet im Islam das individuelle Bemühen darum, ein gottgefälliges Leben zu führen, beispielsweise nicht zu betrügen, nicht zu lügen oder einem Laster anzuhängen. Zur Unterscheidung zwischen dem friedlichen und dem kriegerischen Dschihad wird heute vom großen und dem kleinen Dschihad gesprochen. Nach gängiger Definition ist der große Dschihad ein individuelles oder auch kollektives Mühen, das mit Krieg nichts zu tun hat. Kriegerisch ist nur der kleine Dschihad im Verteidigungsfall.